Kapitel 9, Vers 104-114: Natürlich

 

Montags war mal wieder einer der vielen Feiertage. Mit ein paar anderen Austauschstudenten machte ich mich auf San Isidro zu erkunden. Eine Kleinstadt im Norden Buenos Aires. Dort besuchten wir den bekannten Peru Beach (dort ist wirklich Strand, aber baden möchte man in dem dreckigen Fluss lieber nicht). Wir schlenderten durch die Gassen, schauten uns den Antiquitätenmarkt an, der direkt auf einem Bahnsteig stattfindet. Dort kann man alles finden, Schrott, alte Plattenspieler, altes Geschirr, Silberbesteck und und und… Wenn mein Gepäck für den Rückweg nicht so eingeschränkt wäre, hätte ich gerne was Schönes mitgenommen. Dennoch unterhielten wir uns mit den Standbesitzern, man muss ja jede Möglichkeit nutzen Spanisch zu sprechen 😉
Die Stadt ist auf jeden Fall ein Ruhepol mit schönem Marktplatz (natürlich mit Stand mit Artesanales – Handwerkskunst) und sehr nett zum spazieren.

 

Am Dienstag arbeitete ich für das Seminar und ging in die Schule, um mit den Kindern zu lernen. Nach einer kurzen Einheit des Faches „Radiofusion“ hatte ich am Abend noch Zeit zu einer Salsastunde zu gehen, wo Maxime (die mit dem Marathon) und ich von einer argentinischen Freundin eingeladen waren. Ich kam an, zahlte den Eintritt und verstand erst jetzt, dass es soetwas wie eine offene Bühne war. Anfangs war ein Kurs mit sehr fortschrittlichen Figuren, ehe eine nette Frau sich mir annahm und die Grundschritte beibrachte (die ich zwar schon in einem anderen Kurs gelernt hatte, aber dennoch nicht drauf hatte) Später kam dann Vicky mit ein paar Freunden, die tanzen definitiv drauf hatten. So traute ich mich natürlich auch nicht ein Mädel zum tanzen aufzufordern. Meine gute Freundin Maxime kam an diesem Abend leider nicht mehr, so fühlte ich mich ein wenig fremd in einem Tanzkreis, wo fast jeder jeden kannte. Eine schöne Erfahrung war es dennoch.

 

Mittwoch war mein voller Unitag (11-23h). Heute stand allerdings im Kurs „International Communication“ ein Ausflug in den im Norden der Stadt gelegenen „Parque de la Memoria“ statt, der den Opfern der letzten Militärdiktatur (1976-1983) gedenken soll. Vier hohe und lange Wände, die aussehen wie Urnengräber sind beschriftet mit den Namen aller Opfer (Regimegegner, Studenten…) Dazu gibt es einige Kunstwerke, die an die Grauetaten erinnern sollen, wie z.B. eine Figur inmitten des Rio de la Plata, die an die vielen Körper gedenken soll, die bei lebendigen Leibe ins Wasser geschmissen wurden. Auch 50 Straßenschilder, die umgestaltet sind, gedenken der Probleme und dem Leiden der Bevölkerung unter der Diktatur.

 

Der Eisdonnerstag hatte sich mittlerweile etabliert. So gingen wir in der Pause zu einer Eisdiele und bestellten uns leckere Sorten wie „Dulce de Leche“, „Mente granizada“, „Terremoto“ oder „American Cookies“. Das besondere hier an den Eisdielen ist, dass es Eis nicht in Waffeln sondern in Styroporbechern gibt und nach Gewicht gezahlt wird. Normal teilten wir uns zu zweit 250Gramm mit drei Sorten, was mehr als genug war. Argentinisch war natürlich 250g zahlen und ca 280g zu bekommen, nix da deutsche Genauigkeit 😉

 

Zum Ende der Woche war Mathilda – unsere Quotenfinnin – dran beim „Special-Promi-Dinner“. Sie selbst sagte immerschon zuvor sie könne nicht kochen und ging lieber Essen in Cafés und Restaurants als zu kochen. In der WG von mir und mittlerweile auch Pauline (der Schweizerin) kochte sie uns eine typische finnische Suppe, allerdings ging es ohne unsere Hilfe nicht wirklich 😉 Die Suppe war echt lecker, aber leider ein wenig wenig. Die Alfajores zur Nachspeise hatte Pauline gesponsert, da sonst nichts mehr geboten war. So gingen die Meinungen über die Bewertung weit auseinander. Die einen meinte, sie hätte sich mehr Mühe geben können, ich aber bewertete die Mühe, da ich merkte, wie schwer es ihr fiel und das Ergebnis dennoch sehr lecker war. Ein schöner gemeinsamer Abend war es aber allemal 😊

 

Am Freitag ging es mit Sophia, Mathilda und Pauline nach Patagonien nach Puerto Madryn. Ich hatte mich recht kurzfristig entschieden, mitzukommen, da ich ansonsten an diesem Ort nicht mehr vorbeikommen werde und er sehr sehenswert sein soll wegen seiner Fauna wie den Walen. Verplant wie immer packte ich erst kurz vor knapp am Morgen ehe wir gemeinsam zum Flughafen aufbrachen. Dort erfuhren wir nach dem Checkin und Securitycheck, dass unser Flieger mindestens drei Stunden zu spät ist. Super – typisch argentinisch. Aber wir hatten auch den Billigflieger gebucht, auch wenn der gar nicht so billig war. So machte ich mir einen Scherz daraus, die anderen mit ihrem krassen Handykonsum aufzuziehen und zeitgleich die daheimgebliebenen Mitglieder unserer Clique (Maxime, Sebastian und Noah) zu informieren. Ich startete einen Whatsapp-Liveticker, der zum Insider wurde.
10:43h: „3hours delayed. Arrived here at 9.45 and now it leaves 15.00“
Kommentare: „Da verdient ihr ja noch was beim Flug“ und „Verspätungen gehören hier ja auch zum guten Ton“ wie „ist im argentinischen Fun Package inbegriffen“
11.30h: „We leave the airport to chill in the sun“ (Wir konnten noch einmal aus dem Flughafen gehen, ein Choripan essen und die Sonne genießen 😊)
13.26h: „After choripan and birdpoop we are entering airport again“ (Nachdem zwei der Mädels von einem Vogel vollgeschissen wurde, sind wir wieder in den Flughafen gegangen)
13.34h: „Second time Securitycheck. We should get points and miles for securitychecks“
14.34h: „Boarding really started now“
15.39h: “Aktueller Status: Im Flugzeug.
Derzeit wird noch ein Platz für eine Passagerin gesucht. Das Boarding verlief chaotischer als erwartet, da es auf einmal keine Reihe B mehr gab.”
Scheinbar wurde ein anderes Flugzeug als geplant eingesetzt, das deutlich kleiner war. So wurde einem beim Einstieg eine neue Sitznummer zugeteilt und so hatten nun manche Plätze zwei Passagiere. Das sind eben argentinische Probleme 😉 Matilda durfte somit aber in Reihe eins Platz nehmen…
21.24h: „ Sehr windig. We arrived at 17.50 (4hs delayed). We checked in in a lovely Airbnb at 18.30, went now to book the adventure tomorrow (whales and dolphins) and went to supermarked. Now we look for some Pizza”
Ich habe ja schon immer ein wenig Flugangst und so hatte ich damals beim Transatlantikflug schon sehr schlecht geschlafen, da ich die ganze Zeit von Abstürzen geträumt hatte. Es ging aber jetzt schon besser, doch im Landeanflug in Patagonien hat mein Herz echt gepumpt. Hin und her sind wir geschaukelt nach links und nach rechts. Dann kamen wir mit den einen Rollen zuerst auf der Rollbahn auf ehe die andere Seite nachzog. Mich hat es echt gewundert, dass der Pilot überhaupt die Landebahn getroffen hatte… Umso erleichterter war ich bei der Landung, wo wir hinten unten aus der Maschine stiegen – also nicht seitlich. Das Flugzeug schien schon etwas älteren Baujahres zu sein, hat uns aber GottseiDank dann doch gut hergebracht.
Angekommen bestellte unsere Schweizerin sofort ohne Rückfrage ein Taxi in Richtung gebuchtem Airbnb. Ich war ein wenig verwundert, doch sie setzte sich durch, was diesmal gut war, denn scheinbar gab es keinen öffentlichen Transport von dem kleinen Flughafen in die 10km entfernte Stadt. Wir kamen in einem tollen Airbnb an, wo uns nett Medialunas  bereitgestellt wurden. Nach dem Öffnen der Packung stellten wir allerdings die vorhandene Ameisenstraße fest. Um dennoch die Lebensmittel zu erhalten, entschlossen wir uns das Gebäck in den Gefrierschrank zu packen.
0:27h Sophia: „Paulus ist samt Schuhem aufm Bett eingeschlafen und reagiert auch nach mehrmaligen Rufen nicht“ – Ja mein Schlafbedürfnis haben auch meine neuen Freunde hier sehr schnell kennengelernt ^^

 

Die Suche nach einer Exkursion für den nächsten Tag gestaltete sich schon recht schwierig, da wir mit vier Leuten recht knapp dran waren. Dennoch blieb uns nur dieser eine ganze Tag. Gezahlt wurde natürlich in Bar, was uns vor die Herausforderung stellte, noch an Bargeld zu kommen. So blieb uns nichts anderes übrig, als die teure Abhebegebühr zu entrichten. In einem Reisebüro stellten wir dann fest, dass Puerto Madryn mit der Peninsula Valdez einst eine walisische Kolonie war. Ich wusste wirklich nicht, dass es in Südamerika ursprünglich noch andere Kolonien als die spanischen und portugiesischen gab, die einst ein Abkommen („Vertrag von Tordesillas“) mit Hilfe des Heiligen Stuhls unterschrieben, welche die Aufteilung in spanische und portugiesische Gebiete regelte.

Am Samstag machten wir eine Tour mit einem Jeep auf die unter Naturschutz stehende Halbinsel Valdez. Neben unseren Fenstern sahen wir Gunacos, Lamas, Feldhasen vorbeihuschen. An den vielen Haltepunkten konnten wir Pinguine, Wallrosse, Seelöwen aus nächster Nähe erleben. Es war schon ein gigantisches einmaliges Erlebnis bei sehr windigem Wetter. Der Höhepunkt stand jedoch noch aus. Die einstündige Whalewatchingtour mit dem Boot wurde zu einem tollen Erlebnis. Wir kamen nah an eine Mutter heran, konnten Geräusche wahrnehmen, Wasserspritzer sowie Sprünge, die vielmehr Bauchplatscher waren.
Man kann diese Erlebnisse nicht in Wörter packen, die Bilder sprechen für sich. Ich habe mir auf jeden Fall vorgenommen, in einem nächsten Leben Wallross zu werden. Da muss man nichts anderes als Schlafen, Essen, Baden und Schwimmen und sich um Fortpflanzung kümmern. Was für ein Leben 😊

 

Ich hatte den ganzen Tag mein Handy nicht angeschaltet, kein Internet und nur meinen Foto dabei, um meine Umgebung herum zu realisieren und bewusst wahrzunehmen. Den Mädels ging es gefühlt nur darum, die schönsten Fotos, besten Instagrams zu machen. Wir mussten immer wieder stehen bleiben und warten, bis ein Foto perfekt geworden ist. Das hat mich in Summe ziemlich aufgeregt und bringt mich zu der Frage: „Warum ist heute die Selbstdarstellung wichtiger als die Persönlichkeit?“ Perfektion, Äußeres, Darstellung und schöne Fotos sind oft wichtiger als der Reifeprozess und die Erfahrungen, die ich während einer Reise oder im Alltag gemacht habe… Natürlich sind Südamerikaner da noch empfindlicher.

 

Am Morgen zeigten sich wieder die unterschiedlichen Lebenseinstellungen. Hatten wir noch genug zu Essen da, die Medialunas, Pastareste vom Vortag sowie Obst und Joghurt da. Genug für vier zum Frühstück. Die Schweizerin und die Finnin war das aber scheinbar nicht gut genug, denn sie gingen einfach ins Café zum Frühstücken. Geld spielt bei denen scheinbar wirklich keine Rolle… Zumal genug Nahrung zu Hause war. Am Sonntag blieb uns nicht mehr viel Zeit, um rechtzeitig zum Flughafen zurück zu kommen. Durch meine Begleitung planten wir natürlich deutlich mehr Puffer ein, als ich für nötig halten würde. So blieb leider nicht viel mehr Zeit, als für einen Strandspaziergang, wo wir zufällig wieder auf das Ehepaar Alicia und Jose getroffen sind, die vortags mit uns gemeinsam im Jeep unterwegs waren. Auch sie ließen sich den frischen Wind um die Ohren blasen. Wir entdeckten noch eine nette Höhle am Ende des Strandes. Der Leuchtturm war aber leider zu weit weg, auch sonst hätte es noch genug Sehenswertes in der Umgebung gegeben. Aber so ist es leider – man kann nicht alles haben.

 

Zurück zum Flughafen ging es natürlich auch mit dem Taxi. Wir hatten Probleme beim Onlinecheckin, da wir den nicht ausführen konnten und somit keine Plätze reservieren konnten. Angekommen am Flughafen trafen wir am Schalter auf eine Reihe aus Koffern an. Nichtsdenkend spazierten wir daran vorbei und suchten den Checkinschalter auf. Sofort allerdings sprangen in allen Ecken der Flughafenhalle entrüstete Argentinier auf, die deutlich machten, dass die Kofferschlange eine Repräsentation ihrerselbst sei und wir gefällist hinter dem letzten Koffer zu warten haben. Mit dem Schlangestehen nehmen sie es nämlich sehr genau, genauer als wir als strukturiert bekannten Deutschen! Grotesk war die Situation dennoch.
Endlich am Schalter angkommen, sollten wir jeder 200 Pesos (ca. 10€) Check-In Gebühr bezahlen, wobei der Online-checkin auf der Seite nicht funktionierte. Wir weigerten uns und sahen das nicht ein – natürlich mit unserer europäischen Gewohnheit. Die Finnin und Schweizerin hatten irgendwann keine Lust mehr und nahmen die Gebühr in Kauf. Wir zwei Deutschen (Sophia und ich) sahen das jedoch gar nicht ein. Aufeinmal kam Jose dazu und diskutierte für uns mit den Hostessen. Er gab sich als unser Reiseführer aus und verlangte das „libro de quejos“ – das Beschwerdebuch, was jede Firma immer und überall bereitliegen hat und von Argentiniern sehr gerne genutzt wird. Er setzte sich vehement für uns ein und zeigte sein südländisches Temperament. Dennoch blieb uns am Ende nichts über, als die Gebühr in Kauf zu nehmen. Dafür erhielten wir aber eine Bestätigung über 4h Verspätung beim Hinflug (erst wollten sie uns 3h50 geben, da ab 4h eine Teilrückerstattung möglich ist, doch damit gaben wir uns nicht zufrieden). Danke an Jose für den Einsatz für uns! Im Beschweren und Diskutieren konnten wir natürlich noch unsere Spanischkenntnisse zum besten geben, denn sich beschweren in einer Fremdsprache ist schon Königsklasse.
Nachdem wir im Endeffekt mehr Zeit am Flughafen als in Puerto Madryn selbst waren, kamen wir voll mit Erfahrungen in Buenos Aires zurück. Dennoch würde ich die Reise so nicht wieder planen, sondern mit mehr Zeit und Ruhe.
Funfact am Rande: Ich konnte in das Flugzeug mit meiner 2Liter Wasserflasche einchecken und bin ohne Probleme durch die Sicherheitskontrolle gekommen. Vorschriften für Flüssigkeiten scheint es hier nicht zu geben. Jetzt wundert es mich auch nicht mehr, dass so oft Leute in Europa über unsere Vorschriften verwundert sind, wenngleich sie für uns normal sind.

 

Die nächste Woche zog ins Land, vier Tage und ich würde meine große 12 tägige Reise antreten nach Chile und Bolivien. Diese Tage habe ich zum lernen, kochen, laufen genutzt. Ich hatte Skypeinterviews mit Deutschland um Mitbewohner für meine Erlanger WG zu suchen (leider hat uns das Hochzeitspaar ein paar Monate nach der Heirat verlassen…). Zudem war ich von dem Kurs „Radiofusion“ aus auf einer interessanten Telekommunikationsmesse, die auf den ersten Blick ähnlich aufgebaut war wie die Hannovermesse oder Cebit. Aufgefallen ist mir allerdings, dass deutlich mehr ausgestellt wurde und viele Models dabei engagiert waren. Das zeigt auch wieder, wie wichtig Äußerliches in Argentinien ist. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Schwerpunkt ein ganz anderer ist, denn viele wollen hier Produkte verkaufen und nicht Bekanntheit erlangen und Personal anwerben. Das war schon ein deutlicher Unterschied. Den letzten Abend vor meiner Reise ließen wir in der Baum-Bar, die direkt unter unserer Wohnung war, ausklingen. Das Motto im ganzen Oktober war Oktoberfest und alle Bars waren in blau/weiß oder schwarz/rot/gold getaucht. Eigentlich wollte ich gar nicht weg, denn jetzt fühlte ich mich wohl, hatte Kontakte und kannte mich aus…

 

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