Kapitel 9, Vers 103: Sport ist Mord

3 Bier und ich sag ja – es ist schon wieder passiert
Als sei es nicht schon das ungewöhnlichste, in einem Auslandssemester einen Halbmarathon zu laufen, habe ich mich danach nicht sonderlich besonders gefühlt. Halbmarathon, na ja… Die Woche drauf war ich mit Maxime und Sebastian ein Bier trinken, bzw. wir haben uns neun Bier geteilt. Da sich an diesem Tisch mindestens zwei sehr verrückte Menschen befanden, ist es passiert. Ein High-Five und mir war klar, ich bin verrückt – aber wenigstens nicht alleine. Wenn man verrückt ist, ist es witzig, wenn man aber genauso Verrückte findet, wird es eben krank. Am selben Abend noch meldeten wir uns online für die 42,195km an und am nächsten Tag dachte ich mir noch, was für ein verdammter naiver Idiot ich wäre. Ich bereitete einen groben Traininsplan vor und so begann das Training. Mindestens einmal in der Woche 25-30 Kilometer, mindestens einmal Intervalllauf plus eine Trainingseinheit mehr. Mit zusätzlichen eigen absolvierten Trainingseinheiten pushten wir uns noch gegenseitig zusätzlich. Sogar auf der Iguazú-Fahrt mit 250 Austauschstudenten, wo viele nur am Knutschen und Saufen waren, haben wir eine Trainingseinheit absolviert – gemeinsam mit Jamile, Pauline, Zoé und Charlotte. Und alle von denen wussten nicht, wofür sie uns trainieren würden, denn wir hielten unser Vorhaben absolut geheim, für den Fall, dass einer von uns failt ^^
Fünf Tage davor habe ich mich noch ordentlich erkältet und so ist mein Projekt noch in Gefahr geraten. Durch viel Tee und ausreichend Schlaf, habe ich mich aber erholt, wenngleich ich nicht zu 100% fit in das Rennen gehen konnte. Am Freitag ging es erstmal mit Maxime zum Startunterlagen holen und auf die Ausstellung „Expo“. Bei den Startunterlagen hatte ich ein paar Probleme, da ich keine Kopie meiner Gesundheitsuntersuchung für den 21k hatte. Zuvor wurde mir aber per Mail bestätigt, dass ich diese nicht wiederholt zeigen muss. So musste ich zuerst zur Organisationsstation, die nach einigen Versuchen herausfinden konnten, dass ich für den 21k die Unterlagen präsentiert hatte und somit berechtigt war. Der zweite Grund war, dass ich mich mit meinem Visum als Bewohner angemeldet habe, aber das ist zu kompliziert, um es genau zu erklären. Endlich hatten wir die T-Shirts und ließen sie sogleich kostenlos bedrucken. Nach unserem [P,M]∈{21k} war ja klar, was diesmal folgen musste: [P,M]∈{21k,42k}. Während wir dafür gewartet haben, schauten wir uns auf der Messe um. Neben ein paar Fotos, ließen wir uns beide die Knie tapen (keine Ahnung was das wirklich bringt) und unseren Körperfett- und Muskelanteil messen. Dabei kamen auch einige nette Gespräche zusammen, besonders in Erinnerung bleibt mir ein brasilianisches Pärchen, wo er sehr sportliche Ambitionen hat. Am Samstagaybend trafen wir uns noch zu zweit zu der mittlerweile für mich obligatorischen Pastaparty um die Kohlenhydratespeicher zu füllen. Da die Gespräche gut und die Pasta einfach nur göttlich war, habe ich meine Metro nach Hause verpasst und so wurde es doch schon etwas später. Vier Stunden Schlaf verblieben am Ende noch, die ich allerdings maximal dösend verbrachte – zu groß war die Angst, zu verschlafen. Um 4:50h stand ich auf, kontrollierte mein Equipment, und aß eine Banane. Sogleich konnte es losgehen. Leider musste ich ewig auf den richtigen Bus warten, doch diese Fahrt war aufgrund des wenigen Verkehrs schnell und aufgrund anderer Marathon-Läufer auch kurzweilig. Eine junge Argentinierin, die ich traf, wollte sogar danach noch ein Hockeyspiel bestreiten, ob es dazu kam, werde ich wohl nie erfahren… Beiläufig konnte ich noch einen schönen Sonnenaufgang beobachten.
Nachdem unsere Startgruppe (6/7) aufgrund unbekannter Umstände nicht existierte und wohl mit der letzten Gruppe zusammengelegt wurde, starteten wir auch diesmal in letzter Reihe. Der Slalomlauf blieb allerdings aus, da die Teilnehmerzahl mit ca. 10.000 deutlich geringer war und natürlich weitaus sportlicher. Ich meinte, ich werde nach Gefühl laufen, aber nicht zu schnell. Wer mich allerdings kennt, weiß, dass das eine Lüge ist… Die ersten sechs Kilometer liegen wir gemeinsam, ehe ich Maxime wieder verlor – ein Deja-vu des Halbmarathons. Noch erwartete ich, dass sie mich beim Anstieg eh wieder einholen würde. Ein kleines Missverständnis gab es dabei noch. Wir überholten anfangs gemeinsam den Pacemaker für 6‘00‘‘, wobei ich zuerst schon an den Pace dachte, mir aber nicht zu 100% sicher war. Es hätte ganz am Anfang des Rennens auch die Zielzeit sein können. Dieser Gedanke war ein Fehler, den ich später noch einbüßen musste.^^ Allein unterwegs überholte ich auch bald den 5‘45‘‘ Pacemaker – diesmal ohne zu rechnen, was das für eine genaue Zielzeit wäre. Als ich die 10km nach 50 Minuten netto überquerte, war ich doch schon etwas verwundert – lief ich doch ohne Uhr und Brustgurt. Ich fühlte mich jedoch gut, nahm aber die erste Wasserstation dazu her, den trockenen Mund auszuspülen und meinen Körper zu kühlen. Es ging weiter, ich fühlte mich echt fit, auch wenn die Temperatur zu steigen beginn. Es sollte einer der wärmsten Tage werden, die ich bisher in Buenos Aires erlebt hatte. Das angenehm kühle Wetter mit leichtem Regen vom Halbmarathon wäre mir deutlich lieber gewesen. Die ersten 10 Kilometer waren geprägt von vielen Musikdarbietungen, Soundanlagen, tangotanzenden Pärchen und guter Stimmung. Hier wurde mir eines klar: Eins können die Argentinier: Stimmung machen. Leider waren die Anlagen auf der Strecke nur ungut verteilt und gerade anfangs und zu Ende sehr geballt. Ich lief konzentriert weiter, auf der gesperrten Autobahn, alleine in der Hitze. Zu Gesprächen wäre ich auch gar nicht in der Lage gewesen. Als ich die 21km Marke bei 2h03 (netto 1h58) überquerte, war ich sehr erfreut und zufrieden. So war die Zeit doch zehn Minuten schneller als meine Halbmarathonzeit vor fünf Wochen. Wo Maxime zu dem Zeitpunkt war, wusste ich leider nicht, auch wenn ich mich immer wieder umschaute. Seit km15 ca. hatte sich eine gleichmäßig schnelle Laufgruppe gebildet, in der ich gut mitgelaufen bin. Dass das Rennen nun erst beginnen sollte, war mir so noch nicht ganz klar. Ich träumte lieber davon, die Zeit von Ironman-Ass Jan Frodeno vom Vortag zu knacken – diese war bei 4h01 (ok er hatte deutliche Probleme beim Laufen…). Nun bekam ich meine Fußsohlen zu spüren und auch mein rechter Oberschenkel begann zu zwicken. Ich lief weiter, ließ aber in der Geschwindigkeit ein wenig nach. Es begann die Phase, wo man nun sehr viel mit dem Kopf arbeiten und ausgleichen muss, was mir teilweise aber echt schwer fiel. Ab km23 hangelte ich mich von Trinkstation zu Trinkstation (die alle 2,5km ca. war), bei welchen ich kurz entspannte, mich abkühlte und ging. Ich hoffte, dass alles wieder besser würde – Pustekuchen. Bei km27 überholte mich der 5‘45‘‘ Pacemaker wieder, dranzubleiben schaffte ich leider nicht… Ab km28 wusste ich zwar, 2/3 der Strecke geschafft zu haben, aber eines lag eben auch noch vor mir. Die Kräfte ließen nach, das Zwicken in diversen Muskeln nahm zu. Ich lief nun nur noch von Kilometer zu Kilometer. Spätestens ab km30 hat das rege Stop-and-go vieler Athleten begonnen. Ich hangelte mich nunmehr von Laternenmasten zu Laternenmasten, von Straßenschild zu Straßenschild. Ich versuchte mir einzureden, das Problem ist nur der Kopf, gib nicht auf. Dennoch musste ich immer wieder stehenbleiben. Die Verpflegungsstationen waren immer willkommen. Km32 markierte dann den nächsten Meilenstein und Motivationssprung: es fehlten weniger als zehn Kilometer… Von der ganzen Umgebung bekam ich während dem Rennen wenig mit, ich habe nur vorne gesehen, die Kilometerschilder, anderen Läufer wie die Verpflegungsstationen. Mittlerweile waren wir jedoch im Hafen am Fluss angekommen, wo ein langes, flaches Streckenschild mit wieder mehr Musik folgte. Die vielen anderen Athleten, die Musik und die Zuschauer motivierten mich, auch wenn ich selbst nicht zufrieden mit mir war. Der 38. Kilometer brachte mein nächstes Hoch mit sich – es fehlten nur noch fünf. Ich sammelte noch einmal einige Kraft und konnte einige Athleten hinter mir lassen, doch das Tempo konnte ich nicht durchhalten und ich musste immer wieder ein paar Meter ausschnaufen und gehen. Von meiner Zeit hatte ich zu dieser Zeit keine Ahnung mehr – ich wusste lediglich, dass der 6’00‘‘ Pacemaker mich ca. bei km31 überholt hatte und ich somit die 4h auf keinen Fall mehr schaffen konnte. Schielte ich doch schon viel mehr auf 4h45 ca. Während der harten Kilometer 28-38 schaute ich mich immer wieder um, und hoffte Maxime würde kommen, quasi meine Mentaltrainerin… Sie kam und kam aber nicht. Meinte ich jedoch auch, dass ich weit zurückgefallen wäre. Am Stadion von den River Plates vorbei ging es in die Schlusskurve über eine Brücke. Es fehlten nur noch knapp 1.5km die ich eigentlich durchlaufen wollte – aber nichtmal das schaffte ich mehr, physisch und psychisch. Die letzten 600m wurden von einem frenetischen Publikum begleitet, was mir sehr viel Motivation gab. Ich hatte es gleich geschafft. Dass ich die Kraft hatte, für meien obligatorischen 200m Schlusssprint, zeigt auch, dass meine Rennaufteilung nicht optimal und meine Erfahrung noch ungenügend war. Unzufrieden über meine Leistung während den letzten Kilometern, staunte ich im Ziel nicht schlecht, als ich meine Nettozeit von 4h18 sah, war die Durchschnittspace nur minimalst langsamer als zuvor beim Halbmarathon. Völlig erschöpft legte ich mich direkt nach dem Ziel auf den Boden, um durchzuschnaufen. Sogleich kamen die Rot-Kreuzler angerannt und wollten mich verpflegen, was allerdings nicht nötig war. Ich rechnete nun und fragte mich, wo meine Trainingspartnerin bliebe. Nach zwei Bananen und ausreichend zu trinken, machte ich mich mit Medaille auf den Weg zurück, um ihr entgegenzulaufen. Vor dem Stadion der Rivers setzte ich mich hin und feuerte alle verbliebenen Athleten an. Nach einer Viertelstunde sah ich Maxime kommen in Begleitung einer Argentinierin. Ich motivierte die beiden, die nahe am Weinen waren. Ich lief mit ihnen mit. Maxime war völlig am Ende und konnte auch trotz ihrer mentalen Stärke die letzten 1.5km nicht durchlaufen. Ihre Gefühle reichten von „ich muss gleich weinen“, „ich hau dich, wenn wir im Ziel sind“ bis hin zu „ich bin überglücklich und stolz“. Nach 5h05 netto hatte auch Maxime das Ziel erreicht. Eine Spitzenzeit, wenn man bedenkt, dass sie vor fünf Wochen ihr erstes Rennen (21km) bestritten hatte und nie zuvor mehr als 10km trainiert hatte. Wir waren richtig stolz und konnten das unfassbare kaum glauben. Sie erzählte mir von ihrem Rennen. Da sie meinte, dass der Pacemaker die Zielzeit vorgäbe, hatte sie sich abgehetzt, um in den vorgegebenen sechs Stunden zu bleiben. Als sie nach 2h08 netto die Halbzeit überquerte (identisch zu unserer Halbmarathonzeit), wurde ihr erst bewusst, wie gut sie im Rennen lag. Und das, obwohl es zwischen km10 und km15 ihr wohl sehr dreckig ging und sogar der Gedanken ans Aufgeben in ihren Kopf kam. Schließlich hat sie gekämpft und das (bisher) härteste Rennen in ihrer (jungen) Karriere gefinisht.
Als wir nach Erholung im Zielbereich die Zelte inspezierten, erkannte ich unterschiede zu Deutschland wieder. Dort wären fein ordentlich organisiert Sponsoren und kostenlose Massageliegen gewesen, hier hatte nur jede Laufgruppe ihren eigenen Pavillon aufgabaut. Hatte ich die Massage schon eben abgeschrieben, entdeckten wir das Zelt einer Universität. Als letzte Patienten nahm der Physotherapiestudent uns beide auf. Wir mussten jedoch ein bisschen warten und kamen so in das Gespräch mit zwei Größen des argentinischen Laufsports. Der eine war bereits achtmaliger argentinischer Marathon-Meister (Bestzeit 2h12) und erzählte uns von seiner Karriere. Begonnen hat es wohl schon früh, denn auch sein Vater war begeisterte Marathonläufer. Seit einigen Jahren läuft der den BA-Marathon jedoch gemeinsam mit einem Behinderten in einer Art Kinderwagen. Er will der Welt zurückgeben, was er selbst erfahren hat. Das nenne ich wahren Sportsgeist! Auf dem Heimweg trafen wir noch auf die obligatorisch verlorenen Brasilianerin, die ich noch sicher wenigstens zum nächsten Taxi brachte und dem Taxifahrer erklärte, wohin sie wolle.
Daheim nahm ich erstmal eine Badewanne (anfangs mit kaltem Wasser wegen der Muskel) und döste dort ein wenig vor mich hin. Nach einem Oktoberfestbier in einer Bar und einem lecker Pilzrisotto meiner Mitbewohnerin Pauline, fiel ich noch früh ins Bett.
Da niemand von unseren Plänen wusste, fielen die Reaktionen aller Freunde dementsprechend euphorisch aus. Der Spitzname „Paulo el loco“ wird mir aber jetzt wohl für immer bleiben. Es ist halt das typische Auslandssemester: Laufe einen Halbmarathon und einen Marathon ^^. Danke allen Beteiligten, den Organisatoren und an meine verrückte Trainingspartnerin Maxime! So war der fünfte Wettkampf in der fünften verschiedenen Disziplin (leider in keinem anderen Land) im Jahr 2017 Geschichte.

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