Kapitel 9, Vers 39-42: Im Westen was Neues

Ich dachte ursprünglich schon, Deutschland hat viele Feiertage, doch da habe ich mich getäuscht. Argentinien hat gefühlt spätestens jede zweite Woche einen Feiertag und wird dafür auch von den Nachbarländern belächelt. So hat Argentinien z.B. zwei historische Freiheitstage, den 25. Mai und den 9. Juli, dazu kommen sämtliche christliche Feiertage, Stadtheiliger und und und. Ich weiß oft gar nicht, warum hier ein Feiertag ist. Nach den drei Orientierungstagen, hatte ich eine Woche Universität (Drag&Drop-Phase) absolviert. Erinnert ihr euch noch an Noah aus dem Ende der Paraguaygeschichte? Er hatte seinen Freiwilligendienst beendet und war auf Reisen gegangen. Sein erstes Ziel war die Hauptstadt, Buenos Aires. Dort übernachtete er zwei Tage bei mir, was ein bisschen anstrengender war, da er ja keinen Schlüssel hatte, schön war es dennoch! Lange hatte ich nach Reisebegleitung für das lange Wochenende besucht, habe ich doch Freitags keine Uni, war Dienstag Feiertag und Montags hatte ich nur einen Kurs, bei dem die Anwesenheitspflicht noch nicht begonnen hatte. Spontan am Donnerstag Abend packten wir beide unsere Sachen und fuhren los zum Bahnhof, nichts wirklich geplant, nichts gebucht. Spontane Reisen und Abenteuer sind eben die Besten. Wir kamen am Busterminal um 23.00 Uhr ca. an und viele Busse fuhren an diesem Tag nicht mehr ab, obwohl die überwiegende Mehrheit an Bussen Nachtbusse hier sind. Da ich mittlerweile gelernt hatte, dass es Studentenrabatt von 20-25% gibt, diesem aber nur am Schalter und nicht am Internet, wollten wir diesen erhalten. Allerdings stießen wir auf einen besonders sturen Mitarbeiter. Bei dieser Busgesellschaft zählen nur argentinische Studenten, finde ich blöd, kann es aber auch irgendwo verstehen, denn alle Studenten, die ins Auslandssemester gehen, können nicht die absolut ärmsten sein, dass sie reich sind, heißt es aber auch wiederum nicht. Meine Unibestätigung am Handy hat dieser Mitarbeiter nicht angenommen. Da der Preisunterschied nicht nur 100 Peso war (weniger 5€), entschieden wir uns den früheren und schnelleren Bus zu nehmen, der mit Camas ausgestattet war. Dort war die Beinfreiheit noch größer als bei Semi-Camas und die Rückenlehne ließ sich noch weiter nach hinten fahren. Genial ist es, dass hier bei jeder Busnachtfahrt gleich Abendessen wie ein paar Kekse zum Frühstück immer dabei sind, das erleichtert echt vieles.

 

Nach einer erholsamen Nacht (auch dank stylischer Augenbinde 😉), aber kurzen Nacht, gingen wir erstmal einen Kaffee suchen in Cordoba, der zweitgrößten Stadt Argentiniens. Noah hatte über Couchsurfing zwei Hosts gefunden, bei denen wir für zwei Tage bleiben konnten. Also stand endlich meine erste Couchsurfing-Erfahrung bevor. Nach unserer Kaffeepause machten wir uns auf den Weg zu den Hosts und da wir keine Ahnung hatten, wie wir da eigentlich hinkommen, hat uns der sehr freundliche Busfahrer wie einige Passagiere geholfen und wir sind ins Gespräch gekommen. Etwas das so in Deutschland sicher weniger vorkommt und etwas das ich gerne in Deutschland mehr sehen würde, Hilfsbereitschaft auch für Unbekannte und nicht körperlich Hilfsbedürftige. Offenheit, Neugierde für Neues und Fremdes. Wir trafen auf zwei Leute, auf die ich in meinem Leben sonst niemals treffen würde, da wir uns nicht begegnen würden. Eine junge Frau, nicht viel älter als wir, öffnete uns die Tür und mit ihr stürmten die sechs oder sieben Hunde mit raus. Wir legten unser Gepäck ab und Ayii machte uns erstmal Smoothies. Später lernten wir ihren Freund noch kennen. Ein junger selbstständiger Tattookünstler, der sein eigenes Studio im Haus hat. Auf den ersten Blick hatten wir kaum etwas gemeinsam, weder bin ich Fan von Tattoos noch von einer Hundeherde. Wir machten uns erstmal selbstständig auf die Stadt zu erkennen. Wir waren am Hauptplatz, dem Plaza San Martín, besichtigten die schöne Kapelle und machten eine Tour durchs Unimuseum der ältesten Universität Argentiniens, die eins von Mönchen gegründet wurde. Der Guide hat echt verdammt schnell gesprochen und durch meine Müdigkeit zu dem Zeitpunkt, konnte ich mich kaum konzentrieren. Die Räume die wir sahen, waren dennoch beeindruckend. Alte fette Bücher, aus der Zeit von Guttenberg, wo der Buchdruck eine ähnliche Revolution ausgelöst hat wie später der Computer. Verschiedene Landkarten Südamerikas aus verschiedenen Zeiten, wo man auch hier erkennen konnte, das Paraguay einst das größte Land Südamerikas darstellte und dann noch eine beeindruckend ausgestattete Kapelle. Wir streiften noch ein wenig durch die Stadt und sahen auch hier – wie ich es aus BA schon kannte – riesige Demonstrationen. Verständlich, denn an diesem Wochenende standen die argentinischen Vorwahlen statt. Am Abend machten wir gemeinsam mit unseren beiden Gastgebern Pizza selbst, teilten Mate und unterhielten uns über verschiedene Themen, auch wenn die beiden weder Politik noch religiös interessiert waren. Sport, Kunst, Bildung, Reisen, es gab dennoch einiges auszutauschen. Dass wir bis vier Uhr nachts einen geselligen Abend verbrachten, verdeutlicht die Kurzweiligkeit noch mehr. Und das mit Leuten, denen man im normalen Leben nie begegnen würde…

 

Am nächsten Morgen ging es spät aus dem Bett, dennoch schauten wir uns noch weitere Teile Cordobas an, wir spazierten durch die Stadt, Nord und Süd, eine Insel im Stadtzentrum. Das legendäre Fußballstadium der „Schmach von Cordoba“ war leider zu weit außerhalb und auch als Deutscher wollte ich mir der Schmach dann auch nicht stellen. Ich besuchte abends noch einen Mercado Artesanales, einen Hippiemarkt, der einfach echt sehr cool war. Selbstgebasteltes, Selbstgebackenes, Künstler, Straßenkünstler, Musiker, Leute, die Tanzten. Ich kaufte mir ein Tagebuch und zwei Bücher auf Spanisch und unterhielt mich ein wenig mit Einheimischen. Danach machte ich mich alleine auf ins Observatorium – Noah musste sich um seine Wäsche kümmern – das eigentlich schon geschlossen hatte. Leider hatte ich von der Touristinformation falsche Öffnungszeiten erhalten. Das dazugehörige Museum konnte ich mir zwar nicht mehr anschauen und eine Führung bekam ich auch nicht, dennoch machte sich einer der freundlichen Guides noch einmal mit mir auf in die Kuppel und ich konnte durch ein großes Fernrohr den Saturn glasklar sehen. Sowas habe ich bisher noch nicht gesehen. Das bestätigte meinen Wunsch mehr über Astronomie zu erfahren. Für Astronomen ist dieses Observatorium allerdings ein kleines, hat es doch nur ca. 1m Durchmesser, in Chile gibt es wohl eines mit acht Metern. Eigentlich wollten wir an diesem Abend noch ausgehen, was allerdings ausblieb, da um Mitternacht wegen der anstehenden Wahl alle Geschäfte dichtmachen mussten – ja auch das ist Argentinien.

 

Am nächsten Morgen machten wir uns auf, Richtung Berge zu kommen. Wir entschieden uns zu Trampen. Wir waren zwei Männer und es war Tag. Manchmal mussten wir zwar etwas warten, aber nichtsdestotrotz sind wir schon ziemlich schnell voran gekommen. Mit fünf verschiedenen Autos, Pärchen, Familien sind wir Richtung Berge gefahren. Wir machten einen Zwischenstopp in La Paz, einem großen Ferien und Erholungsort innerhalb Argentiniens, denn es hat einen See und die Berge nahe. Für einen sehr günstigen Preis frühstückten wir hier erstmal. Uns nahmen die verschiedensten Leute mit, ein Pärchen, das auf dem Weg zum Wahllokal war, ein Mann, der eine Ferienwohnung herrichten wollte und letztendlich ein Ehepaar mit Tochter, das auf dem Rückweg vom Wahllokal war. Zur Wahl will ich hier noch etwas anmerken. Das war die Vorwahl in Argentinien, die eigentliche Wahl ist Mitte Oktober. Bei der Vorwahl wurden die Kandidaten bestimmt, die für die jeweilige Partei antreten sollen – ähnlich dem amerikanischen Prinzip. Aufgrund niedriger Wahlbeteiligung wurde vor einigen Jahren eine Wahlpflicht eingeführt. Dazu gibt es Verbot für Clubs, Bars und teilweise Geschäfte, Alkohol zu verkaufen oder geöffnet zu haben  - von Mitternacht bis Wahlschluss. Wer nicht zur Wahl geht, muss eine Strafe zahlen, normalerweise ca. 50 Pesos, es soll aber auch schon Leuten die Ausreise verweigert worden sein. Ich bin doch recht froh, dass in Deutschland zwar eine Bürgerpflicht und ein Wahlrecht, aber nicht eine Wahlpflicht existiert. Die politische Meinung in Argentinien ist sehr gespalten – in Summe aber deutlich linker als Deutsche oder besonders Amerikanische Politik. Ca. die Hälfte der Bewohner ist Befürworter des aktuellen Präsidenten Magri, die andere Hälfte der früheren – deutlich linkeren - Präsidentin Christina Kirchner – oder liebevoll nur Christina genannt. Was für mich kaum erstaunlich ist, ist, dass an der privaten Uni UCA, die ich hier besuche, die Mehrheit den konservativen Magri befürwortet. Außerhalb davon habe ich aber auch schon einige Christina Befürworter getroffen. So z.B. die Familie, die uns an diesem Abend aufgenommen hatte, mitten in den Bergen wohnend – ohne einen Cent zu verlangen. Das ist gelebte Solidarität. Sie waren die letzten Fahrer, die uns mitgenommen hatten und zufällig eine Ferienwohnung frei hatten. Ins Gespräch kam v.a. Noah, da er und die Tochter der Familie beide auf die von Steiner gegründete Waldorfschule gehen/gingen. Nach der Ankunft wurden wir von der Familie zu Mate und Kuchen eingeladen und hatten angeregte Diskussionen über Bildung und Politik. Magri war damals angetreten, mit dem Ziel die Armut – 34% in Argentinien leben in Armut – zu reduzieren. Bis jetzt hat er dies in seiner Amtszeit aber nicht wirklich geschafft, zudem ist auch die Wirtschaft nicht wirklich stabiler geworden, die hier besonders aus Dienstleistungen besteht. Auch diese Familie waren für mich Symbol des Ausbruchs aus der zivilen Leistungsgesellschaft – wie zuvor schon die Brüder in Taizé, meine Tante Sabine oder die Schweizer in Paraguay. Ihnen allen schien es glücklich zu gehen. Müssen wir uns von dem Druck und der Leistung in der Gesellschaft wirklich immer weitertreiben lassen? Auch beim Abendessen gesellten wir uns zusammen mit der Familie. Wir aßen aber unsere am Mittag gekauften Empanadas, von denen wir beide riesiger Fan sind.

 

Am nächsten Morgen ging endlich unser Traum in Erfüllung – wir wurden von einem Truck mitgenommen, der uns die restlichen 15km zum Fuß des Berges führte. Ein unbeschreibliches Gefühl auf der Ladefläche eines Trucks mitfahren zu können. Das einzige Hostel, das es dort gab hatte leider zu. Wir versuchten in der danebenstehenden Schule nach Unterschlupf in der Nacht zu fragen, die aber leider keinen Platz hatte. Es stellte sich heraus, das dies ein katholisches Internat mitten in der Natur war, weit und breit nichts, 20km bis zum nächsten Dorf. Auch einige Lehrer wohnen hier dauerhaft, unter ihnen ein junges Ehepaar. Auch sie sind für mich ein Symbol gegen die Leistungsgesellschaft, sie sind Aussteiger und genießen das Leben in der Natur. Nachdem auch die zweite Unterkunft uns nicht aufnehmen konnte, da die Gastgeber zum Arzt ins Dorf fuhren und deshalb Übernacht nicht da waren. Das einzige Zelt, das sie hatten, hatten sie kurz zuvor bereits verliehen. Wir überlegten lange, was wir tun konnten, denn wir wollten endlich wandern gehen. Also entschieden wir uns, die Rucksäcke in der einsamen Gegend zu verstecken und keine Zeit zu verlieren. Wanderwege gab es hier nicht wirklich und auch der Stein war ein anderer. Mit vielen Kraxel und Kletterübungen erreichten wir nach ca. zwei Stunden einen Gipfel, ein wunderbarer Ausblick. Die Nacht verbrachten wir schließlich unter freien Himmel, dick eingepackt in unseren Schlafsäcken. Mit dem Lebenskünstler Noah sammelte ich altes Stroh in den Dicken Grasbüscheln als Unterlage für unsere Schlafsäcke – Isomatten hatten wir nicht dabei. Spät abends machten wir uns vor dem ins Bett gehen noch eine Mate, was auch sonst in Argentinien. Ich mag diese Tradition, dieses gesellige Beisammensein. Leider passierte mir genau hier noch ein Missgeschick, denn mein Rucksack fiel ins Wasser – was das für Auswirkungen hatte, sollte ich erst später erfahren – in diesem Moment war ich noch recht gelassen. Ich habe geschlafen, auch wenn ich nachts einige Male aufgewacht bin aufgrund der Kälte, aber wann schläft man schonmal auf einem Stein im Fluss unter freien Himmel?

 

Der nächste Morgen begann naturgemäß früh. Wir machten uns abermals mit einem Lagerfeuer (streng bewacht von einem Feuerwehrler) Mate, wie ein Frühstück. Danach ging es los, zurück. Die Wege trennten sich. Wehmut. Ich wollte weiterreisen, die Welt entdecken und mit Noah weitere Abenteuer meistern. Ein kurzes Stück nahm uns der Lehrer auf seinem Truck mit, ehe wir in dem öffentlichen Bus den Weg aus den Bergen nahmen. Für mich ging es nach Cordoba, Noah brach Richtung Norden auf, sein Ziel: Peru. Von Cordoba wollte ich eigentlich auch wieder zurücktrampen. Doch es war spät, mir fehlten Ideen und alleine hatte ich nicht ganz den Mut wie zu zweit. Dazu war die Strecke 700km lang und bisher habe ich nur Erfahrung von kurzen Distanzen. Ich nahm den Bus, der Abends fuhr. Dort konnte ich mich abermals wieder nur mehr aufregen, da sie mir die 25% Studentenrabatt nicht geben wollten, da ich für sie kein argentinischer Student war. Die restliche Zeit bis zum Nachtbus wartete ich im Park, auf den Treppen, in einem verlassenen Schwimmbad, einem See. Ich entspannte, schrieb Tagebuch und erfüllte eine weitere Karte von Basti und Julian: „Beobachte Menschen“. Auf der Treppe sah ich einige Sportler, die sich quälten, dazu noch einen Mann, der in der Reha war und sich schwer tute, aber kämpfte. Jedes Mal, als er vorbeikam, lächelte ich ihm zu, sagte ihm „suerte“, wollte ihm Kraft verleihen und bat ihm einen Keks an. Eine gute Tat am Tag, ich hatte sie erfüllt.
Am Heimweg fiel mir noch eine ganz andere Sache auf. Busse werden nicht nur zum Menschentransport, sondern auch Warentransport benutzt. Man kann an Bushaltestellen Päckchen aufgeben und abholen, die in einem der Busse mittransportiert werden. Dies zeigt zum einen ein schlechtes Postsystem hier, zum anderen doch eine gewisse Cleverness, Transportmittel auszunutzen. Mir gefiels. Im Bus erlebte ich dann weitere Polizeikontrollen, mitten in der Nacht. Alltag hier. Als Deutscher wird man allerdings nicht so arg kontrolliert, oftmals nur der Ausweis. Bei Einheimischen und besonders Einwohnern der Nachbarländer wird da schon genauer hingeschaut. Für mich ein Vorteil, aber ist das Arbeitseffizient oder eine kleine Form von Rassismus?                        

 

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